Erwerbsminderungsrente beantragt, aber keine abschließende Entscheidung. – Kann parallel die Altersrente beantragt werden?
Eine Bürgerin hatte 2021 einen Antrag auf eine Erwerbsminderungsrente gestellt. Der Antrag war abgelehnt worden und sie hatte inzwischen Klage beim Sozialgericht erhoben. Allerdings: eine Entscheidung des Gerichts stand noch aus.
Nach so langer Verfahrensdauer und mit Blick auf ihr Alter sowie ihren Gesundheitszustand fragte sich die Frau, ob sie parallel zum Verfahren der Erwerbsminderungsrente nunmehr die Altersrente (aufgrund von Schwerbehinderung und mit entsprechenden Abschlägen) beantragen kann. Sie wollte auch wissen, ob sich der Altersrentenantrag ggf. nachteilig auf das laufende Gerichtsverfahren auswirken könnte und was gilt, wenn das Gericht irgendwann später über ihre Erwerbsminderungsrente entscheidet.
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Lösungsansatz und Ergebnis:
Der Bürgerbeauftragte konnte der Bürgerin folgende Information geben:
Die allgemeinen Voraussetzungen für einen Rentenanspruch sind in § 34 Sozialgesetzbuch (SGB) Sechstes Buch (VI) geregelt. Danach haben Versicherte Anspruch auf Rente, wenn die für die jeweilige Rente erforderliche Mindestversicherungszeit (Wartezeit) erfüllt ist und die jeweiligen besonderen versicherungsrechtlichen und persönlichen Voraussetzungen vorliegen.
Gemäß § 37 SGB VI kann eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen unter folgenden Voraussetzungen beantragt werden:
- das maßgebende Alter wurde erreicht,
- der Grad der Behinderung beträgt wenigstens 50 und
- die Mindestversicherungszeit (wird Wartezeit genannt) von 35 Jahren ist erfüllt.
Jahrgänge bis 1951 konnten unter diesen Voraussetzungen mit 63 Jahren abschlagsfrei in Rente gehen. Für die Jahrgänge von 1952 bis 1963 wurde das Renteneintrittsalter für die abschlagsfreie Rente bei Schwerbehinderung (= Rentenaltersgrenze) schrittweise angehoben und liegt für die Geburtsjahrgänge ab 1964 bei 65 Jahren.
Die Altersrente für schwerbehinderte Menschen kann auch schon bis zu 3 Jahre vor der jeweils geltenden Altersgrenze in Anspruch genommen werden. Dabei gelten die gleichen Voraussetzungen wie für die abschlagsfreie Rente. Die vorgezogene Altersrente für schwerbehinderte Menschen ist aber niedriger als die abschlagsfreie Rente. Für jeden Monat, in dem die Rente vor der Altersgrenze bezogen wird, wird die Rente um je 0,3 % gekürzt. Dadurch kann sich ein maximaler Abschlag von 10,8 Prozent ergeben. Diese Rentenkürzung ist dauerhaft, d.h. sie fällt mit dem Erreichen der Altersgrenze nicht weg.
Für die Bürgerin stellt sich also die Frage, welche Folgen sich ergeben, wenn die Altersrente bindend festgestellt wird, obwohl über die – voraussichtlich höhere - Erwerbsminderungsrente noch nicht entschieden wurde.
Gemäß § 34 Abs. 2 SGB VI ist nach bindender Bewilligung einer Altersrente oder für Zeiten des Bezuges einer solchen Rente der Wechsel in eine Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit, Erziehungsrente oder andere Altersrente ausgeschlossen. Denn: Ein „Wechsel“ im Sinne des § 34 Abs. 2 SGB VI liegt vor, wenn nach einer Altersrente - auch Teilrente – nahtlos eine andere Rente bezogen werden soll. Die Ausschlussregelung kommt daher nur dann zur Anwendung, wenn sich für die weitere Rente ein späterer Rentenbeginn ergeben würde als für die zuerst bewilligte Altersrente.
Aber: Bei zeitgleichem oder früherem Beginn der weiteren Rente liegt kein Wechsel vor. In diesen Fällen ist es unerheblich, ob der Bescheid über die zuerst bewilligte Altersrente bereits bindend geworden ist und somit „Zeiten des Bezuges einer Rente wegen Alters“ vorliegen. Es besteht ein paralleler Anspruch auf zwei Renten, von denen nur die höchste Rente geleistet wird (§ 89 Abs. 1 SGB VI).
Bei der Prüfung der Ausschlussregelung kommt es allein auf den Beginn der zuerst bewilligten Altersrente und nicht auf den Zeitpunkt der Bescheiderteilung an.
Folgendes Beispiel soll diese Regelung verdeutlichen:
Die Versicherte erhält eine Altersrente für langjährig Versicherte seit 01.12.2022. Der Rentenbescheid wurde nicht mit einem Widerspruch angefochten und ist daher bindend.
Im Rahmen der Abhilfe eines Widerspruchs wird für sie das Vorliegen von voller Erwerbsminderung auf Dauer seit 05.06.2022 festgestellt. Der Antrag auf Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit war im August 2022 gestellt worden. Für die Rente wegen voller Erwerbsminderung würde sich ein Rentenbeginn 01.07.2022 ergeben.
Lösung:
Ab 01.07.2022 besteht ein Anspruch auf die Rente wegen voller Erwerbsminderung. Da der Beginn der weiteren Rente (Rente wegen voller Erwerbsminderung) vor dem Beginn der zuerst bewilligten Altersrente für langjährig Versicherte liegt, handelt es sich hier nicht um einen ‘Wechsel’ im Sinne des § 34 Abs. 2 SGB VI. Es liegt vielmehr ab 01.12.2022 ein paralleler Rentenanspruch im Sinne des § 89 SGB VI vor. Es ist in diesem Fall unerheblich, dass der Bescheid über die Altersrente für langjährig Versicherte bereits bindend geworden ist.
Im Ergebnis bedeutete dies für die Bürgerin: sollte nach der Bewilligung ihrer Altersrente nunmehr im Sozialgerichtsverfahren eine Erwerbsminderung festgestellt werden, kommt es darauf an, ab wann der Anspruch auf Erwerbsminderungsrente besteht. Wird im Ergebnis des Gerichtsverfahrens der Beginn der Erwerbsminderungsrente vor dem Beginn der Altersrente liegen, dann wird bis zum Beginn der vorzeitigen Altersrente für schwerbehinderte Menschen die Erwerbsminderungsrente geleistet. Ab Beginn der vorzeitigen Altersrente käme die Regelung des § 89 SGB VI in Betracht, wonach dann die höhere Rente – bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze – geleistet wird.
Liegt hingegen der Beginn einer möglichen Erwerbsminderungsrente hinter dem Datum des Rentenbeginns der vorzeitigen Altersrente für schwerbehinderte Menschen, dann ist ein Wechsel zurück zur Erwerbsminderungsrente gem. § 34 Abs. 2 SGB VI ausgeschlossen.
Zum Schutz der Bürgerinnen und Bürger, die wir beraten, behalten wir uns vor, bei den geschilderten Fällen auf Namen und Ortsangaben zu verzichten oder sie so abzuwandeln, dass eine Identifikation ausgeschlossen werden kann. Zur besseren Verständlichkeit verzichten wir auf eine detaillierte Darlegung der Rechtslage, sind aber gerne bereit, diese auf Nachfrage zu erläutern.
Stand: 2024